Rosa Brille mit Sprung

Das "Monster Schulsystem" und ich

Ich bin  „ü40“, Psychologin und habe drei Töchter. Die Älteste ist 18, die Jüngste drei Jahre alt. Was das Thema Schulwahl angeht, bin ich in einer interessanten Position, denn ich habe das alles schon einmal durchgemacht und ein Déjà-vu jagt derzeit das andere. Meine Zweitjüngste wird heuer nämlich sechs.

Wenn ich mich in meinem Bekanntenkreis umsehe, sehe ich derzeit jede Menge rosa Brillen auf Elternnasen sitzen: „Habt ihr euch auch schon Schulen angesehen? Wir schauen ja schon seit letztem Jahr. Was hältst du von der Mehrstufenklasse in der Dingsdagasse? Die haben Montessori und alles. Und trotzdem soziale Durchmischung. Echt suuuuper dort!“ Ja super. Sicher. Montessori, eh. Mhm, nick nick. Derzeit verstumme ich bei solchen Gesprächen und übe mich im empathischen Kopfnicken. Jede und jeder hat das Recht, eigene Erfahrungen zu machen. Ich hab meine schon gemacht. Und meine rosa Brille hat einen gewaltigen Sprung.

Und während sich die Jungeltern in meiner Umgebung durch die bunten Faltblätter und Homepages der umgebenden Schulen wühlen, sitze ich zum x-ten Male mit meiner Ältesten in der Sprechstunde: „Ja, sie ist wirklich total intelligent. Es haben schon viel Blödere die Matura geschafft, aber die haben sich halt BEMÜHT! Ich PERSÖNLICH freue mich natürlich, wenn ich mit einer Schülerin im Unterricht über Hegel diskutieren kann. Sie ist ja eine der Wenigen, die mitdenkt. Aber Hegel steht nun mal nicht im Lehrplan. Sie muss ENDLICH lernen, sich an den Vorgaben zu orientieren!“ Ja genau. An den Vorgaben orientieren. Nicht an den Kindern. Ein total intelligentes Kind, das mitdenkt? Wozu? …Genau das ist das Problem, das ich mit dem System Regelschule habe.

Meine aktuelle Schulkrise begann vor etwa einem Jahr akut zu werden. Ich wachte in der Nacht schweißgebadet auf, Herzklopfen bis zum Rand. In meinem Kopf eine schrille, hämische Stimme: „Nächstes Jahr wird sie sechs! Nächstes Jahr kommt sie in die Schule! Nächstes Jahr beginnt der Ernst des Lebens!!“ Ich brauchte lange, um wieder einzuschlafen. Ungefähr zur selben Zeit begannen auch die anderen Eltern im Umfeld, die Schule zu thematisieren. In ihren hoffnungsfrohen Gesprächen erkannte ich mich wieder. Auch ich war vor 18 Jahren begeistert von den Angeboten, die es inzwischen in Regelschulen gab. Die Wahl fiel auf eine öffentliche Volksschule mit Mehrstufenklasse mit dem Angebot „offenes Lernen“. Alles klang perfekt! Und vieles war gut – im Rahmen der Möglichkeiten. Die drei besten Freundinnen meiner Tochter kamen aus Serbien, Albanien und Spanien. Und es gab einen Theaterkurs und eine Schulpsychologin. Und dann gab es „das Schulsystem“…

Die Realität holte mich am ersten Elternabend ein. Wir Eltern saßen mit lächerlich verrenkten Gliedmaßen auf viel zu kleinen Schulbänken. Vorne hatte sich die Lehrerin aufgebaut und klärte uns über unsere Elternpflichten – Verzeihung – Mütterpflichten auf: „Der schulische Erfolg hängt davon ab, wie Sie ihre Kinder zuhause unterstützen. Deshalb lernen die Mamas bitte verlässlich am Montag, Mittwoch und Freitag von zwei bis drei Uhr die neuen Buchstaben. Ab Dezember lernen die Mamas dann bitte das Plusrechnen mit ihren Kindern. Bitte auch unbedingt vor drei Uhr, weil da ist das Gehirn noch lernfähig.“ Die Mamas also? Vor Drei? Hallo? Schon mal was von Berufstätigkeit gehört? Und von Papas, die vielleicht auch was beitragen wollen? Eine Mutter zeigte auf. Ich rechnete damit, dass die Frau aussprach, was sich an Widerstand in mir regte. Stattdessen fragte sie. „Und woher weiß ich, was genau ich mit ihm lernen soll? Steht das im Hausübungsheft?“ Ich war einfach nur sprachlos. Aber das war erst der Anfang.

Nach ein paar Wochen begann meine Tochter sich in der Schule zu langweilen. Sie hatte schon alle Buchstabenkarteien durchgemacht. Weil aber bis Weihnachten Buchstaben am Programm standen, musste sie wieder von vorne anfangen. Ob Maria Montessori das so geplant hatte? Ich zweifelte.

Ich übte mich in Wertschätzung für das was möglich war. Und zweifelte trotzdem oft. In der vierten Klasse aber VERzweifelte ich. Plötzlich ging der Ernst des Lebens nämlich wirklich los. Hausaufgaben bis acht Uhr abends, Schularbeiten und ein Drill, wie ich ihn nicht einmal aus meiner Schulzeit kannte. Ich suchte das Gespräch mit der Klassenleiterin. „Naja, wenn sie WIRKLICH eine Montessorischule und offenes Lernen wollen, dann müssen sie halt eine Privatschule nehmen. Wissen Sie, wir müssen das alles anbieten, weil sonst kriegen wir ja die Klassen nicht voll. Das haben heute ALLE. Wir haben in der Vierten die Vorgabe von oben, alle Kinder fürs Gymnasium reif zu machen. Wenn Ihnen das nicht passt, melden Sie sie halt ab. Das wäre uns eh lieber. Sie Frau Jederfrau, sind nämlich das Problem hier!“

Ich bemühte mich, zum Wohle meiner Tochter kein Problem mehr zu sein. Meine Tochter wurde also „reif gemacht“, bekam Augenringe, depressive Verstimmungen und Schulangst und schaffte es so schließlich ins Gymnasium. Darüber dann das nächste Mal.

Für mich bleibt im Moment nur weiternicken und „mhm“ sagen. Jede und jeder darf eigene Erfahrungen machen. Ich mache jetzt mal andere – meine jüngeren Töchter werden nämlich in eine Alternativschule gehen. Vier Jahre Aufschub, bevor mich das Monster „Schulsystem“ wieder aus dem Schlaf reißen wird.

Tags:

Teile diesen Blogbeitrag